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Elegische Distichen
Von meiner Radtour im August 2023 durch die Regionen Bodensee, Schaffhausen, Klettgau, Aargau, Basel, Elsass, Hunsrück und Saarland versandte ich täglich Elegische Distichen. Wie dieses Verspaar aufgebaut ist, erläutere ich ausführlich in der Auflösung eines Rätsels auf CulturMag.
Etappe 1 (Büsingen)
Will auf der Radfahrt bekränzen die Tage elegisch mit Disti-
chen, lustig klappern sie mit, hebt sich und senkt das Pedal.
Fütterte Schweinchen und Schweinchen und Schweinchen und Schweinchen und Schweinchen,
Schweinchen und Schweinchen und Schwein, allen zum Abschied Salat.
Radelte, rollte und ruhte am Rande des randvollen Rheines,
Mendelssohn klang im Konvent Sankt Katharina im Tal.
Erstes Etappenziel Rheinmühle Büsingen, deutsche Enklave,
„ewiges Ärgernis“ einst für den Schaffhauser Kanton.
Sang in der wehrhaften Büsinger Bergkirche Sankt Michaelis,
weidendes Vieh hinterm Dorf, langer Spaziergang zur Nacht.
Etappe 2 (Waldshut)
Klettgaudurchquerung auf schnurgraden Wegen zur Brotzeit bei Tobi.
Saftiges Rübenkraut, Mais, Hügel mit Drakulawald.
Höhen vermieden zugunsten sanft plätschernder Gräben am Feldrain,
Reiher, ein graues Gespenst, Königslibellen, erstarrt.
Lauthals und glücklich gesungen in spätklassizistischem Schmuckbau.
Wutach gefolgt, zum Hotel, ähm, mit Massagesalon!
Süße Verschmelzung von Aare und Rhein, ach, betrogen!
Autobahndreieck und Dreck, Fahrradverkehr hier verkehrt.
Umkehr erzwungen, dann plötzlich: Geheimnis verborgener Stufen,
führen hinab im Beton, kaum im Bewuchs zu erspähn.
Unten ein Auwald, verträumt und verschwiegen, mit schwankenden Pfaden,
trübgrüne Tümpel im Schilf, feindliches Brombeergestrüpp.
Einsame grasgrüne Stunden am Ufer der friedlichen Aare,
erstmals gesehn und ganz nah: Eisvogels grünblauen Blitz!
Etappe 3 (Pratteln)
Dritte Etappe und längste, kaum Schatten, erbarmungslos sonnig,
Kraftwerke, Schrott, Industrie, Schwerverkehr tuchfühlungsnah.
Armer Rhein! Eingezwängt, beidseitig Hauptverkehr, kaum je zu sehen,
Dorfstraße Lkw-Stau, Dorfbeiz mit Raststättencharme.
Golden die Schilder, einst „Rheinblick“ und „Fährhaus“, dann „Fun-Club Las Vegas“,
Leerstand jetzt, abgasrußschwarz, selbst das Verkaufsschild vergilbt.
Neben Verkehrskummer alte Salinen, Konzert in Kapelle,
Liege im Klinikpark. Ziel: Pratteln mit Sockenpension.
Etappe 4 (Mulhouse)
Rechts der Kanal, der Kanal, der Kanal, der Kanal, eine Schleuse.
Links der Kanal, der Kanal – glückliche Monotonie.
Glückliche Moni dank Wolken, der Himmel bedeckt, schwarz und schwärzer.
Wind, dann Gewitter und Guss, klöppelt aufs Regencapezelt.
Weiterfahrt herrlich, die dampfenden Wiesen, das tropfenden Blattwerk.
Pfad durchs Naturreservat: endlos gerader Asphalt.
Frankreich ist Zaunland, bevorzugt aus Plastik in Mülltütengrauton,
Gärten, gekiest und gefliest, Radwege immerhin da.
Seltsames Elsass, wo alles deutsch, ausgetauscht einzig die Sprache,
Namen verballhornt, verbrämt, hier im Village du Moulin.
Lothringer lustigstes Beispiel ist, o là là, Boucheporn, ganz harmlos:
Video nicht, noch oral, Quelle am Busch einst, Buschborn!
In der Taverne der „Chévaliers Teutoniques“ wird mir das Bier zum Diner.
Erstmals, seit Konstanz ich ließ, ach, umso süßer es perlt!
Etappe 5 (Ungersheim)
Morgenfahrt über die Felder zum Elsässer Freilichtmuseum.
Studium ungestört tief: les und beseh jedes Schild.
Fachwerksymbolik: ein Dreibein ist Mann, und die Frau eine Raute.
Merken: Andreaskreuz-X versus kurulischer Stuhl.
Einrichtungsvorbilder nett, doch historisch nicht durchgehend richtig!
Immerfort Braue sich hebt, Deutsch der Legenden oft falsch!
Fehlschlag: das Ansinnen, einer französischen Führung zu folgen,
Blaupfau beim Kronenputz schenkt Schwanzfeder mir. Souvenir!
Beste Erkenntnis: hab erstmals verstanden die Sache mit Töpfchen und Deckel:
Töpfer an Deckeln sorgt vor: Vielzahl, auf dass einer passt.
Hund zog Hausierers Gut; Hauswurz, aufs Dach gepflanzt, schützt gegen Blitze;
Schmied schenkt mir ehernes Blatt, „Qu’est-ce c’est?”, Antwort obskur.
Etappe 6 (Reichenweiher)
Üppige Weinberge, lesereif, doch, na klar, sonnig, die Höhen!
Route nach Colmar genial, Wasserbedarf ein Problem.
Pause am Denkmal, für wen starben all diese Söhne des Dorfes?
Weltkrieg 1: Deutschland, Krieg 2: erst für Paris, dann Berlin.
Sprachen sie deutsch, aber fühlten französisch, den Preußen nicht günstig?
Wiki-Artikel ist lang, Zeiten sind hier kompliziert.
Vier Stunden Abkühlung unter den Linden, das Schönste seit Christi,
durchgehend herrliche Kunst, bis zu Picasso, dann Schmu.
Einkehr in Riquewihr, der Weiher der Reichen, perfekte Erhaltung,
leider touristenverseucht: malerisch spricht sich herum.
Etappe 7 (Mutzig)
Flohmarkt in Bergheim, wer kann trotz Transportproblem da widerstehen?
Töpferform, rar und antik. Statt im Museum jetzt mein!
Kaufte schon Holzmeise, außerdem Weinflasche, musste probieren!
Winzerfamilie so nett. Konnte nicht gehn ohne Kauf.
Leider Dilemma: kann Flasche nicht leeren, sonst Sportsgeist perdu.
Edel und schwer, Pinot gris, Wegschütten keine Option.
Wohne im Prachtbau der Brauerei Mützig, die Heineken kaufte.
Nach ein paar Jahren war Schicht, heute Ruine/Hotel.
Etappe 8 (Neuweiler)
Sonnige Berg-, Hang- und Talfahrt nach Neuweiler, nahe bei Zabern.
Dörfer, so schmuck wie intakt, prachtvoller Kirchen je zwei.
Uraltes Mütterlein eilte den Schlüssel der Kirche zu holen,
elsässisch-deutscher Diskurs: Pankraz, der Märtyrerbub.
Füllte die Kirche mit Tönen nach Noten aus baugleichen Zeiten.
Wie viele Sänger seitdem machten sie glücklich wie mich?
Autobahnauffahrtsrand, Auto auf Dach liegend, Licht an und friedlich.
Weiß nicht, was tun. Komm nicht hin. Hoffe, die Meldung ging raus.
Wieso nur fahren Franzosen nicht Fahrrad trotz herrlicher Strecken?
Lückenhaft, doch Ambition: Netzausbau schreitet voran.
Trotzdem: die wenigen anderen Radler sind deutsche Elektro-Cyclisten.
Wenn lokal, dann Tour de France, zischen vorbei: „À ta gauche!“
Wohn höchst mondän, Hotel Herrenstein, Zimmer heißt „Marie Françoise“.
Kirche romanisch geduckt, Engel, barock, obendrauf.
Etappe 9 (Hambach)
Heute Vogesendurchquerung, geringere Pein als befürchtet,
schieben im Bergwald genehm, wenig Verkehr, doch Geschmeiß.
Teesalonpause in Lützelstein, heißt heute Le petit pierre.
Alter der Umschrift wohl hoch, Mittelhochdeutsch noch bekannt.
Straßenbaustelle Totalsperrung! Bautrupp mild: lässt mich passieren.
Teer für die Reifen zu heiß? Weiche durch Brennnesseln aus.
Ärmliche, bröckelnde Dörfer am westlichen Hang der Vogesen,
Schlosskauf erwägenswert hier, Maklerpreis ist septante mille!
Fahrrad fährt holprigste Pisten, wo Pkw Achsbruch erlitte,
handbreite Linie reicht aus. Interessant: Schlaglochphysik.
Lande bei Hambach in gigantomanischem Großindustriepark.
Nachbarschaft bestens zu hörn: lautstark in Freude und Streit.
Etappe 10 (Mainzweiler)
Treidelpfadtour am Saar-Kohlen-Kanal, früher zogen hier Menschen,
Tiere dann, später Traktorn Lastschiffe mit/ohne Fracht.
Schwer war der Anfang, die Masse des Kahns in Bewegung zu setzen:
Esel und Pferd, Weib und Mann „legten sich [kräftig] ins Zeug“.
Neben mir Felder mit Sonnblumen, neigen die lieben Gesichter,
manche reckt lang ihren Hals, keck in die Ferne zu schaun.
Realisiere, oh Schreck, in der Nacht Handy hat nicht geladen!
Hektisch bei zarten Prozent kritzel ich Ortsnamen ab.
Hoffnungsvoll renaturiert, ist der Fischbach ein wachsender Dschungel.
Halde von Schlacken und Ruß heute Naturschutzgebiet.
Bergiges Land, dieses Saarland, für Mountainbike Weg gut geeignet.
Folge den Pfaden am Gleis, schwierige Hindernisbahn.
Straßen zu baun ohne Radwege ist per Gesetz zu verbieten!
Mainzweiler, letzte Station, ohne Motor kaum erreicht.
Wohn in der „Linde“, die „Jacky“-Suite kunstschlangenlederbezogen,
Lampen, Regale und Licht Tennessee-Whiskey-beschirmt!
Etappe 11 (Ellweiler)
Letzte Etappe beginnt gleich mit Ärger: die Radwege abgesperrt.
Grund ist „der Motorsport“. Oooo-xymoron, allein das Wort!
War dieses Land vor dem Krieg schon besiedelt, so fragt man sich stirnrunzelnd,
ist hier doch jegliches Haus hässlich wie das nebenan.
Wie gesagt, bergig, die Gegend, doch süß, die Belohnung am Ende,
Gondwana Zwischenstation, dann wieder eins mit dem Kind.
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